Abschied

Rosenheim, 22. Januar 2015

Manchmal fängt man Dinge an, ohne genau zu wissen, warum. Genau genommen fängt man sie nicht an, sondern sie fangen an. Und ohne es zu merken lädt man damit etwas in sein Leben ein, dass einen eine Weile begleitet, interessiert und verändert; etwas das eine Art Eigenleben entwickelt; etwas für das man unmerklich die Verantwortung übernimmt und das erst später merkt. Und genau so, wie solche Dinge auftauchen beschließen sie auch, wieder zu gehen.

So ist es mir im Oktober 2011 gegangen. Ich hatte eine Woche freigehalten, weil ich auf ein Meditationsseminar wollte. Wegen zu weniger Anmeldungen ist es abgesagt worden und ich stand da mit einer Woche, in der ich nichts zu tun hatte. Etwas orientierungslos ging ich in die Stadt und beschloss mich leiten zu lassen von dem was mir begegnen würde. Es war der schwere Frack eines Mannes aus Flensburg, den ich in einem Second-Hand Laden fand. Oder besser: er mich. Irgendwie fing er meinen Blick. Woher ich weiß, dass er aus Flensburg war? Der grüne Abhol-Zettel einer Flensburger Reinigung ist bis heute in der Innentasche. Ich zog ihn an, er passte perfekt und es war klar: daraus wird etwas für diese Woche. Und ohne großen Aufwand fand alles zusammen: Ein alter Pappkoffer, den ich von meinem damaligen Schwager geschenkt bekommen hatte; aus dem Fundus zurückgelassener Dinge einer Obdachloseneinrichtung die er leitete. Ein Paar zu große Lederschuhe, die ich mir in der Not in Leipzig gekauft hatte, weil mir bei einem Auftrag meine Straßenschuhe kaputt gegangen waren. Eine viel zu große, schwarze Anzughose, die ich mit 20 in Berlin gebraucht gekauft hatte und die meine damalige Freundin immer abfällig als Clowns-Hose bezeichnet hatte (sie wusste damals noch gar nicht, wie recht sie haben würde - und ich auch nicht). Und weil mein Interesse an Performances im öffentlichen Raum aufgetaucht war beschloss ich, aus all diesen Dingen eine Art "Performance-Experiment" zu machen. Die äußeren Bedingungen für "Ihn" waren entstanden, ohne, dass ich mich dafür hätte anstrengen müssen.

Heute - nach 10 Monaten Pause - habe ich ein weiteres und letztes mal getan, was ich in den letzten dreieinhalb Jahren immer wieder getan habe: Ich habe die Kleidung und Schminke in den alten Papp-Koffer gepackt und bin in eine andere Stadt gefahren. Diesmal: Rosenheim, wo ich im Anschluss noch einen Freund treffen werde. Seit ein paar Tagen war klar, dass es wieder an der Zeit war für „ihn“ und der Vormittag in Rosenheim schien ideal.

Womit ich nicht gerechnet hatte war, dass er sich heute verabschieden würde. Obwohl ich mich schon seit Tagen gefragt habe: warum tue ich das. Nicht das die Frage neu gewesen wäre. Ich habe sie mir praktisch jedes Mal gestellt. Aber bisher hatte ich immer eine klare Antwort: Ich tue es. Und es war natürlich immer spannend und immer ein Erlebnis. Heute war es nicht mehr „spannend“ im eigentlichen Sinne, Heute war es eher „klar“.

Das Umziehen in der Öffentlichkeit war mit keinerlei Nervosität verbunden. Auch das loslaufen: keine große innere Verwandlung wie sonst. Eher ein ruhiger Übergang von mir zu ihm. Ohne Schwierigkeiten oder Widerstände.

Und dann der Weg: an keiner Stelle irgend eine Frage von mir oder von Ihm. Keine Hindernisse. Auch als er angesprochen wird, wo er denn hin wolle, zeigt er nur selbstverständlich in die Richtung in der er geht.

Derselbe Gang - nur eben leichter. Dieselbe Haltung, nur eben weniger schwer. Und sehr schnell ein klares Gefühl von große Trauer. Nach einer Weile ist klar, dass die Trauer etwas mit Abschied zu tun hatte. „Er“ war nicht - wie ich bei den ersten "Verwandlungen" dachte - neu hier. Ganz im Gegenteil. Heute waren klare Gefühle da von Heimatlosigkeit, von hier nicht Hingehören und Erleichterung darüber, diese schräge und monströse Welt verlassen zu dürfen. Bis fast zum Schluss mit der gleichen Neugierde und dem gleichen kindlichen Staunen wie alle Male davor: ein Lastwagen, der einen schweren Stahlcontainer quietschend auf einen Anhänger hievt. Beeindruckend und beängstigen. Das Danone Werk in seiner vollkommen un-irdischen Präsenz mit all den riesigen, glänzenden Stahltanks. Unfassbar. Kleine, leere, enge Straßen mit alten Häusern, die noch am ehesten angenehme Erinnerungen von Bekanntem wecken.

Was ihn immer wieder und am meisten fasziniert: der Schornstein der Müllverbrennungsanlage. Grauer, weiter, grenzenloser Himmel. Mittendrin ein roter Schornstein. Eine nicht abreißende graue, tanzende, gewaltige Wolke, die daraus entsteht und in der Unendlichkeit des grauen Himmels verschwindet.

Lebendigkeit und Ruhe. Weite und Sehnsucht. Und: Tränen. Es war klar dass sie kommen würden. Kurz, schon früher, fordere ich mich auf nicht auszuagieren, nichts zu erzwingen. Das muss ich auch nicht. „Er“ weint. Die Tränen kommen von alleine. Und da wird mir klar: er ist dabei, sich zu verabschieden. Ich oder er - ich kann es nicht mehr genau sagen - wird sich seiner, und gleichzeitig meiner Körperlichkeit bewusst. Tatsächlich frage ich mich, wie er denn "gehen" will? Ich bleibe ja schließlich. Und sogar die Frage kommt: was passiert denn mit dem Frack der gehört doch ihm? Ich beschließe, diese Fragen loszulassen.

Er geht weiter an einem Bach entlang. Vor ihm eine Grünanlage, die immer weiter wird. Eine tiefe Sehnsucht entsteht, genau dort hinzugehen; in diese Weite. Ein letzter Blick zurück auf die Schornsteine, aus denen graue Wolken in den grauen Himmel fließen.

Der Bach mündet in den Inn. Seine Sehnsucht ist, einfach am Fluss weiterzugehen. Immer geradeaus; und so zu verschwinden. Aus einer Welt, die nicht, oder besser: schon lange nicht mehr seine ist; die er nicht versteht; die ihn in ihrer Monströsität gleichzeitig fasziniert und befremdet; in der er keine Heimat hat; in der er Besucher ist; in die er nicht gehört. Er will einfach nur gehen. Es fällt mir schwer, keine Ideen dazu zu entwickeln. Etwa, dass dort eine andere Welt liegt. Eine, in die man nur ohne Körper reisen kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob diese Ideen und Bilder von mir kommen oder von ihm. Ich schaffe es, meine Gedanken loszulassen und im Beobachten zu bleiben.

Genau an der Mündung vom Bach führt eine Art "Halbe Brücke" über den Fluss. Eine Aussichtsplattform mit Blick Fluss abwärts; links und rechts Flussauen, Wälder, Weite. Er steht auf der Plattform und schaut. In den grauen, weiten, zeitlosen Tag. Erleichterung macht sich breit. Und innerhalb von Sekunden löst er sich. Ich weiß nicht, ob er sich auflöst, aber er löst sich. Plötzlich bin ich komplett entspannt. Mein Körper in seinen Klamotten. Er ist weg. Mir ist extrem kalt.

Ich stehe noch kurz da und gehe dann flott zu einer Bank auf der Halbinsel des Zusammenflusses zwischen Mangfall und Inn. Während ich mich abschminke wird mir bewusst, dass er gerade gegangen ist. Den Fluss entlang.

Als ich fertig bin mit Umziehen (es ist keine Rückverwandlung, ich muss nur seine Klamotten ausziehen) werde ich sehr traurig. Traurig und dankbar. Tatsächlich fühlt es sich an, als wäre gerade ein alter Freund gestorben. Einer, den ich gut gehen lassen kann. Einer, mit dem mich eine sehr eigene Beziehung verbunden hat. Einer, der mich teilhaben hat lassen an seiner Sicht auf die Welt. Trauer, Freude, Dankbarkeit. Ich muss weinen.

Und so wird dieser Eintrag zu einer Art Nachruf auf jemanden, zu dem ich ungewollt eine sehr enge Beziehung hatte und den es eigentlich gar nicht gab.

Auf dem Weg zu Andi frage ich mich, was bleibt.
Viel. Die Eindrücke der Welt aus seiner sehr eigenen Perspektive. Ein Frack, der jetzt wieder nur noch ein Frack ist. Die Praxis des „sich Verwandelns“, die ich sicher weiterführen werde, alleine oder mit anderen, nur eben nicht mehr mit „ihm“. Und das Gefühl, dass Dinge zu Ende gehen dürfen.
Später werde ich Andi treffen. Straßentheater-Macher, Clown und Performer. Ich werde ihm von diesem Erlebnis erzählen. Und er wird mich lächelnd ansehen und Fragen: „Wer sagt, dass er nicht wieder kommt?“

Ich muss lächeln.