Die Beziehung zwischen ihm und mir... - München, 23. Dezember 2012
Sonntag Morgen um 7:45 Uhr am Odeonsplatz in München. U-Bahn Zwischengeschoß.
Es hat geregnet und es ist nass. Im Vorfeld gab es viele Ideen, was heute alles passieren sollte. Der ursprüngliche Plan hatte gar nichts mit der Figur zu tun sondern mit Weihnachten. Über die Wochen blieb am Ende nur eines: am Sonntag Morgen vor Weihnachten in der leeren Stadt verwandeln. Und was auch blieb war die Idee, "ihn" zu filmen. Je länger ich am Abend davor darüber nachdenke, desto klarer wird mir, was für ein Experiment alleine das ist. Alle anderen Aufgaben, die ich ihm stellen wollte sind damit vom Tisch. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, um was es eigentlich geht: um das Erleben. Nicht um Darstellen, nicht um ein fertige Bild, nicht um Wirkung.
Um 8:00 kommt -wie vereinbart- Sarah, eine Freundin, der ich soweit vertraue, dass ich sie gefragt habe, ob sie mich/ ihn filmen will. Ursprünglich, weil ich ein bestimmtes Bild mit "ihm" vor Augen hatte, aber -wie gesagt- darum geht es dann schon lange nicht mehr.
Im Zwischengeschoss sind U-Bahn Wachen unterwegs, also wird nichts daraus, mich hier, geschützt vor Wind und Nässe zu verwandle. Ich begrüße Sarah, wir gehen zum Dianatempel im Hofgarten. Ich merke, wie unsicher ich bin. Die Verwandlung und „seine“ Existenz so bezeugen zu lassen, so bewusst danach zu fragen, macht mich nervös.
Meine Hoffnung, dass es unter dem Dach des runden Dianatempels trocken ist, wird nicht erfüllt. Egal. Zusätzlich müssen wir über die schweren Absperrketten steigen, die uns vor Dachlawinen warnen. Kurz beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wird er da raus kommen? Ich muss mich aktiv daran erinnern, dass das sein Problem ist.
Ich beginne, mich umzuziehen, Sarah beginnt zu filmen. Es ist komisch, gefilmt zu werden. Bei etwas, dass immer nur als Selbstexperiment gedacht war. Es geht nicht um Wirkung. Und dennoch verändert es alles. Ich mache alles noch bewusster. Als Thomas stört mich das Filmen auch noch nicht. Aber im laufe der dann folgenden 10 oder 15 Minuten -in denen er entsteht- wird klar: das beobachtet und gefilmt Werden ist eine riesige Herausforderung für ihn.
Zuerst steht jedoch eine andere Aufgabe an: aus dem runden Tempel mit seinen acht Torbögen herauskommen. Jeder Bogen ist mit einer schweren, schaukelnden Eisenkette verhängt. Für ihn ein unüberwindbares Hindernis.

Er hat keinerlei Impuls, über die Kette zu steigen. Ich trete kurz ein
Wenig in den Vordergrund. Eine Sekunde habe ich Sorge, dass seine
gesamte heutige Existenz nur im kleinen Rund des Dianatempels
stattfinden könnte. Innerlich muss ich grinsen. Er steht immer noch vor
einer der Ketten und schaut raus. Ich "interveniere" und gebe ihm den
Impuls, über die Kette zu steigen. Es ist umständlich und gefährlich.
Das mit dem ich -also Tom- und er -also die Figur- ist so eine Sache.
Ich bin immer da. ab dem Ende der Verwandlung bis zum Entschluss, wieder
zu mir zu werden. Ich kann komplett zurücktreten. Dann entscheidet er;
und ich habe eine Art versteckte Beobachterposition. Er erlebt, ich
erlebe aus seiner Perspektive mit. Oft komme ich in "mein" Bewusstsein
und muss mich dann aktiv darauf fokussieren, er zu sein, oder besser:
ihn sein zu lassen. In Situationen, in denen er einen Impuls braucht,
oder in denen es Gefährlich wird kann ich allerdings weniger oder mehr
in den Vordergrund treten. Der Wechsel ist fließend und stufenlos und
klappt dieses Mal sehr gut.
Muss er auch, denn ich will, dass es von ihm ein paar gute Fotos und
Filmsequenzen gibt. Sarah macht das super. Hält sich komplett im
Hintergrund. Nur ganz selten geht sie vor ihm und macht Aufnahmen von
vorne oder sogar aus der Nähe; von seinem Gesicht. Für ihn eine Qual.
Ich zwinge ihn, Sarah nahe ran zu lassen. Es ist fast Gewalt, die ich
ihm antue. Er fühlt sich verraten. Verraten von mir. Tatsächlich kommt
es mir jetzt, wo ich im Café sitze und meine Erlebnisse reflektiere vor,
wie ein böser Vertrauensbruch. Dieser Scheue, traurige, vorsichtige
Mensch, abhängig von mir (denn nur so kommt er in seine Existenz) wird
von just dem einzigen, den er hat, gezwungen, einen anderen Menschen so
nah ran zu lassen. An einer bestimmten Stelle kommen ihm Tränen. Er kann
es nicht fassen, aber er lässt es zu, vielleicht, weil er weiß, dass er
keine Wahl hat.
Sarah erzählt mir danach, als wir noch einen Kaffee trinken, wie
unangenehm es ihr war trotz der klaren Zeichen der Unsicherheit und der
Abneigung so nah ran zu gehen und ihn so zu verfolgen. Ich bin ihr
dankbar. Aus vielen Gründen. Zum einen, weil die Beobachtung das Erleben
der Verwandlung (hin und zurück) noch bewusster macht. Eine Zeugin
bringt die Außensicht klarer zum Vorschein. Die Folge für mich: ich muss
mich noch klarer entscheiden, muss mich noch bewusster darauf
einlassen.
Ein weiterer Grund, dass ich mich sehr freue, dass Sarah filmt ist, weil
es "ihm" eine komplett neue Erfahrung bringt. Das Gefühl "ausgeliefert"
zu sein. Es verändert die Beziehung zwischen mir und ihm. Ich zwinge
ihn zu etwas, was ihm höllisch unangenehm ist. Was ihn wütend macht. Und
diese Wut, auch wenn sie nur in Momenten verzweifelter Trauer ihren
Ausdruck finden, ist eine komplett neue Erfahrung.
Der Weg, den er heute zurücklegt ist sehr kurz. In einer halben Stunde
vom Hofgarten auf den Odeonsplatz, dort verweilen und dann zurück zum
Eingang des Herkulessaals. Unter dem schützenden Vordach öffne ich
meinen Koffer, ziehe mich um und schminke mich ab.
Nach der Rückverwandlung macht es ein weiteres Mal einen riesiger
Unterschied zu wissen, dass da wer ist, der das alles aus der Nähe und
bewusst miterlebt und bezeugt hat. Ich bin dankbar, dass jemand da ist,
mit dem ich darüber reden kann. Obwohl dass erst mal gar nicht möglich
ist, weil ich die Spannung, unter der ich stehe loswerden muss. Ich
komme mir vor, als hätte ich ihn betrogen. Als hätte ich ihn
missbraucht. Oder besser sein Vertrauen und seine Abhängigkeit
missbraucht. Das Wissen, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt hilft
nicht. Und außerdem: es gibt ihn ja; zumindest zeitweise.
Also: diesen Gefühlen nachspüren. Dem Mitgefühl mit ihm, das noch eine
ganze Weile anhält. Mein Gefühl, fast schon gewalttätig gewesen zu sein,
auf jeden Fall aber übergriffig. Nach einer Weile fällt auch dieses
Gefühl ab; nachdem ich mit Sarah reden kann. Erzählen kann. Ihre
Erlebnisse anhören kann; Schilderungen, die mein und sein Erleben
bestätigen.
Hilfreich ist auch, bezeugt zu bekommen, was bisher ja nur als
Selbstexperiment im Raum stand. Ein Erleben, dass ich mit niemandem
teilen konnte. Ich kann es beschreiben in einem Blog, reflektieren im
Gespräch mit anderen, aber es bleibt ein Wiedergeben einer Wirklichkeit,
die so komplett surreal ist, dass sie mich immer wieder beängstigt. Das
ist von heute ab anders. Ich bekomme Rückmeldung. Von Außen. Von einem
Menschen, dem ich vertraue. Und die deckt sich mit dem, was ich, bzw. er
in dieser Zeit der Parallel-Existenz erleben. Das ist beruhigend. Und:
es gibt Bilder und Videos. Die Bilder bekomme ich später. Ich bin
gespannt. Im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich sie sehen
will. Sie könnten eine weitere Perspektive für mich bringen, von der ich
nicht weiß, ob sie nicht wieder alles verändert. Bisher kennt er (und
ich) nur sein Spiegelbild. Für ihn wird sich das nicht ändern, außer ich
zwinge ihn irgendwann, in seiner Existenz Bilder oder Filme von ihm
anzuschauen. Für mich wird sich etwas ändern, weil ich dann Bilder von
ihm habe, ohne sie durch ihn wahrzunehmen, wie das etwa mit
Spiegelbildern in Schaufenstern ist, die ja zu kompletten Verwandlung
nötig sind.
Oder besser gesagt: sie waren es. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht,
dass er erst vollkommen er ist, wenn er sein Spiegelbild gesehen hat.
Diesmal war es anders. Vielleicht lag es an der Außenperspektive durch
die Kamera. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war er schon in dem Moment
komplett da, in dem ich den Koffer nach dem Umziehen geschlossen habe.
Da muss ich ihn zwingen, nochmal zu gucken, ob nicht etwas von mir
liegengeblieben ist. Ihn interessiert das nicht. Er will einfach nur
losgehen.
Viel Neues. Für ihn. Für mich. Für die "Beziehung" zwischen ihm und mir.
Erst durch das Experiment des Filmens, des bezeugt Werdens und des
penetrant verfolgt Werdens wird mir überhaupt bewusst, dass es sie gibt
und welche Züge sie hat, die Beziehung zwischen mir und ihm. Und wie
verletzlich sie ist.
Ich bitte Sarah beim Kaffee danach, mir die Bilder zu schicken und einen
Film zusammenzuschneiden. Sie sagt ja. Ich bin Froh. Jetzt wird mir
klar, dass ich schon die Bilder heikel finde. Aber das Filmmaterial
sichten und zusammenschneiden? Danke, dass kann ich nicht. Das würde
mich so in die Außenperspektive und auf die Eben der "Wirkung" bringen,
dass ich mir sorgen machen würde, ob ich danach jemals wieder in diese
Parallele Wirklichkeit eintauchen kann, ohne permanent die Wirkung als
Störfaktor zu haben. Und das fühlt sich so an, als wäre es ein noch
größerer Verrat an ihm und meine Beziehung zu ihm, als es die Aktion
heute schon war. Ich glaube, er muss jetzt erst mal wieder ein Bisschen
Vertrauen zu mir fassen:-)
Als ich Sarah verabschiedet habe, beschließe ich, mich noch kurz in ein
Café zu setzen und die Gedanken für den Blog aufzuschreiben. Jetzt, über
eine Stunde nach der Rückverwandlung, nach dem Gespräch mit Sarah und
nach der zweiten Tasse Tee, bei Weihnachtsmusik, die im Café läuft komme
ich langsam zur Ruhe. Das war das aufwühlendste Erlebnis mit ihm und
für ihn. Bisher.
14:30 Uhr: Gerade sind die Fotos gekommen...
© alle Bilder: Sarah Schill, München
Danke an: Sarah. Für die Mischung aus großem Einfühlungsvermögen und
Hartnäckigkeit und für die Offenheit; hat ihn und mich weitergebracht...